»Hier ist Scarecrow! Hier ist Scarecrow!«, schrie Schofield in sein Helmmikrofon, während er inmitten des ohrenbetäubenden Gewehrfeuers hinter einer Tür Deckung suchte. »Ich zähle acht Feinde! Wiederhole, acht feindliche Objekte! Ich halte sie für sechs Militär und zwei Zivilisten. Zivilisten verbergen möglicherweise Waffen zum Gebrauch für das Kommando. Marines, keine Zurückhaltung!«

Eisklumpen regneten rings um ihn her zu Boden, als Latissieres Hagel von Geschossen auf die Eiswand über ihm prasselte.

Der Anblick der Armbrüste war der Auslöser gewesen.

Jede der Elite-Militäreinheiten auf der Welt hat ihre eigene charakteristische Waffe. Bei den United States Navy SEALs, Experten im Nahkampf, ist es die 12-Kaliber Ruger-Pumpgun. Beim British Special Air Service - dem berühmten SAS -sind die charakteristischen Waffen Stickstoffgranaten. Bei den US-Marine-Force-Aufklärungseinheiten - den Eliteeinheiten des regulären United States Marine Corps - ist es der Armalite MH-12 Maghook, ein Greifhaken, der zugleich einen Hochleistungsmagneten enthält, welcher an glatten metallischen Oberflächen haftet.

Nur eine Eliteeinheit ist jedoch dafür bekannt, Armbrüste zu tragen.

Das Premier Regiment Parachutiste d'Infanterie de Marine, das erste Luftlande- Marineregiment, die französische Elitekommandoeinheit - auf Englisch bekannt als das First Marine Parachute Regiment. Es ist das französische Äquivalent zum SAS oder den SEALs.

Was heißen soll, dass es keine reguläre Einheit ist wie beispielsweise die Marines. Es steht eine Stufe höher. Es ist gleichfalls eine Offensiveinheit, ein Angriffsteam, eine Eliteeinheit, eine quasi inoffizielle Einheit, die nur aus einem Grund existiert, nur aus einem einzigen Grund: als erste einzudringen, und zwar rasch einzudringen, und jeden in Sichtweite zu töten.

Weswegen Schofield erkannte, als er sah, wie Gant die kleine, mit einer Hand zu haltende Armbrust aus der Nahrungskonserve herausholte, dass diese Männer keine Wissenschaftler von d'Urville waren. Sie waren Soldaten. Elitesoldaten.

Schlauerweise hatten sie erwartet, dass ihm die Namen sämtlicher Wissenschaftler auf d'Urville bekannt wären, also hatte sie deren Namen angenommen. Um die Illusion zu unterstützen, hatten sie auch zwei echte Wissenschaftler aus der französischen Forschungsstation mitgebracht - Luc Champion und Henri Rae -, Leute, die den Bewohnern von Wilkes persönlich bekannt wären.

Der letzte Zug war vielleicht der beste von allen: Sie hatten zugelassen, dass Luc Champion, einer der Zivilisten, beim Eintreffen der Marines in der Eisstation Wilkes das Kommando übernommen hatte, und dadurch vorgetäuscht, dass sie alle lediglich Wissenschaftler waren und der Weisung ihres Vorgesetzten folgten.

Dass die Franzosen fünf Bewohner der Eisstation Wilkes -unschuldige Zivilisten - unter dem Vorwand mitgenommen hatten, sie in Sicherheit zu bringen, und sie dann mitten auf den Schneeebenen exekutiert hatten, brachte Schofield in Rage. In einem abgelegenen Winkel seines Bewusstseins beschwor er ein Bild herauf, welche Szene sich abgespielt haben mochte - die amerikanischen Wissenschaftler, Männer und Frauen, die um ihr Leben weinten, flehten, bettelten, während die französischen Soldaten unter ihnen einhergingen, die Pistolen auf ihre Köpfe richteten und ihre Gehirne über das ganze Innere des Hovercrafts verspritzten.

Dass wenigstens zwei französische Wissenschaftler - Champion und Rae - zusammen mit dem französischen Kommando gekommen waren, machte Schofield sogar noch wütender. Was mochte ihnen versprochen worden sein dafür, dass sie am Mord unschuldiger Wissenschaftler teilgenommen hatten?

Die Antwort war unseligerweise einfach.

Sie hätten als erste die Gelegenheit erhalten, das Raumschiff zu studieren, sobald die Franzosen es in ihre Hände bekommen hätten.

Hektische Rufe tönten über Schofields Helmsprechfunk.

»... erwidern Feuer'.«

»...Klar!«

»... Samurai ist gefallen! Fox ist gefallen!«

»... kann verdammt noch eins keinen Schuss anbringen...«

Von der Türschwelle aus sah Schofield Gant flach auf dem Rücken liegen, auf dem Laufsteg halb zwischen dem Speisesaal und dem Korridor zum Haupteingang. Sie rührte sich nicht.

Sein Blick schweifte zu Augustine Lau hinüber, der, alle Viere von sich gestreckt, draußen auf dem Laufsteg vor der Schwelle zum Speisesaal lag. Laus Augen waren weit geöffnet, das Gesicht mit Blut bedeckt, Blut, das ihm aus dem eigenen Bauch gespritzt war, als Latissiers Sperrfeuer ihn praktisch aus nächster Nähe erwischt hatte.

Nicht weit entfernt von Schofield, aus dem Tunnel, der zum Haupteingang der Station führte, beugte sich Buck Riley heraus und erwiderte das Feuer mit seiner MP5 und ertränkte damit das blecherne Ratta-tat der französischen FA-MAS mit dem Feuergeräusch der MP5 deutscher Herkunft, das klang wie das Platzen eines Reifens. Gleich neben ihm tat Hollywood das gleiche.

Schofield fuhr herum und sah zu Montana hinüber, der im Eingang zum Westtunnel kauerte. »Montana. Okay?«

Als Latissier wenige Augenblick zuvor das Feuer eröffnet hatte, waren Montana und Lau ihm am nächsten gewesen, denn sie hatten auf der Schwelle zum Speisesaal gestanden. Als Latissier das Gewehr zum Feuern hochgerissen hatte, war Montana rasch genug hinter der Türschwelle in Deckung gegangen. Lau nicht.

Und während Lau unter der brutalen Wucht von Latissiers Feuer das vorführte, was Infanteriesoldaten den »Danse macabre« nennen, war Montana den Laufsteg entlang zur nächsten Stelle gekrochen, die Sicherheit versprach, dem Westtunnel.

Schofield sah Montana in zwanzig Metern Entfernung in sein Helmmikrofon sprechen. Seine raue Stimme kam über Schofields Helmfunk. »Bin gerade beim Nachprüfen, Scarecrow. Ich bin ein wenig durcheinander gerüttelt, ansonsten jedoch okay.«

»Schön.«

Weitere Geschosse schlugen in das Eis über Schofields Kopf. Schofield ging hinter der Türschwelle in Deckung. Dann spähte er rasch um den Türrahmen herum. Diesmal jedoch vernahm er dabei ein seltsames Pfeifgeräusch.

Mit einem scharfen Boinnng! bohrte sich ein zehn Zentimeter langer Pfeil kaum ein paar Zentimeter von Schofields rechtem Auge entfernt in das Eis.

Schofield blickte auf und sah Petard im Speisesaal mit gehobener Armbrust. Kaum hatte Petard seine Armbrust abgefeuert, da warf ihm Luc Champion eine kurzläufige Maschinenpistole zu und Petard beteiligte sich wieder mit einem heftigen Feuerstoß aus seiner Waffe am Kampf.

Schofield spähte um den Türrahmen und warf erneut einen kurzen Blick zu Gant hinüber. Sie lag noch immer reglos auf dem Laufsteg, auf halber Strecke zwischen dem Speisesaal und dem Tunnel zum Haupteingang.

Es musste irgendein Reflex gewesen sein, als sie langsam das Bewusstsein wiedererlangte.

Schofield sah es augenblicklich und sagte in sein Helmmikrofon: »Hier ist Scarecrow, hier ist Scarecrow. Fox ist noch am Leben. Ich wiederhole, Fox ist noch am Leben. Aber sie ist draußen im Freien. Ich benötige Deckung, damit ich sie dort herausholen und hier herbringen kann. Bestätigen!«

Wie bei einem Anwesenheitsappell ertönten die Stimmen.

»Hollywood, verstanden!«

»Rebound, verstanden!«

»Montana, verstanden!«

»Book, verstanden«, sagte Buck Riley. »Alles klar, Scarecrow! Los!«

Rings um ihn her, in perfektem Einklang, sprangen die Marines aus ihrer Deckung und erwiderten das Feuer auf den Speisesaal. Der Lärm war ohrenbetäubend. Die Eiswände des Speisesaal explodierten zu lausenden von Einschussnarben. Die vereinigte Stärke des Angriffs zwang Latissier und Petard, das Feuer einen Augenblick lang einzustellen und in Deckung zu gehen.

Draußen auf dem Laufsteg fiel Schofield direkt neben Gant auf die Knie.

Er blickte auf ihren Kopf hinab. Der Pfeil von Cuviers Armbrust war in die Stirnplatte ihres Kevlarhelms eingedrungen und ein schmaler Blutstrom lief ihr die Stirn herab und an der Seite der Nase entlang.

Beim Anblick des Bluts beugte sich Schofield dichter heran und sah, dass die Gewalt der Armbrust so stark gewesen war, dass der Pfeil Gants Helm durchschlagen hatte. Fast drei Zentimeter des Pfeils waren durch das Kevlar gedrungen, so dass seine silbrig glänzende Spitze jetzt direkt vor Gants Stirn herausragte.

Der Helm hatte den Pfeil nur Millimeter vor ihrem Schädel aufgehalten.

Nicht einmal das. Die rasiermesserscharfe Spitze des Pfeils hatte ihr tatsächlich die Haut geritzt, so dass sie blutete.

»Komm schon, gehen wir!«, meinte Schofield, obgleich er sich nicht sicher war, ob Gant ihn verstand. Das Deckungsfeuer der Marines rings um sie her währte fort, als Schofield Gant über den Laufsteg zurückzog, auf den Tunnel zum Haupteingang zu.

Jäh, wie aus dem Nichts, sprang einer aus dem französischen Kommando hinter einem Loch in der Wand des Speisesaals hervor, das Gewehr gehoben.

Während er Gant noch immer weiterzog, hob Schofield rasch seine Pistole, zielte ohne Vorwarnung und feuerte rasch zwei Salven ab. Wenn das FA-MAS blechern und das MP5 klang wie Reifenplatzen, so tönte Schofields automatische Pistole I.M.I. »Desert Eagle« wie Kanonendonner. Der Kopf des französischen Soldaten explodierte und eine rote Masse spritzte umher, als beide Salven ihr Ziel auf seinem Nasenrücken fanden. Scharf und ruckartig schlug sein Kopf zurück - zweimal - und er verschwand augenblicklich aus dem Blickfeld.

»Verschwinde dort, Scarecrow! Beweg dich!«, kreischte Rileys Stimme in Schofields Ohrhörer.

»Ich bin fast da!«, schrie Schofield über das Gewehrfeuer hinweg.

Jäh ertönte eine weitere Stimme über den Sprechfunk.

Sie war ruhig, klinisch. Im Hintergrund tönte keinerlei Gewehrfeuer.

»Mannes, hier ist Snake. Ich bin noch immer auf meinem Posten draußen. Ich berichte, dass ich jetzt visuellen Kontakt mit sechs weiteren Feinden habe, die das zweite französische Hovercraft verlassen. Ich wiederhole, ich sehe sechs weitere bewaffnete Männer vor mir, die das französische Hovercraft verlassen und sich dem Haupteingang der Station nähern.«

Ein jäher, erschütternder Knall ertönte über Funk. Snake Kaplans Sturmgewehr.

»Marines, hier ist Snake. Jetzt also fünf weitere Feinde, die sich dem Haupteingang der Station nähern.«

Schofield blickte in den Tunnel zurück, der zum Haupteingang hinter ihm führte. Darauf hielten er und Gant zu. Riley und Hollywood befanden sich gerade dort und feuerten auf den Speisesaal. Sergeant Mitch »Ratman« Healy neben ihnen tat desgleichen.

Und dann explodierte jäh, ohne Vorwarnung, Healys Brust. Von einer Hochleistungswaffe von hinten durchschossen.

Healy zuckte heftig, als ein Schwall Blut aus seinem Brustkorb spritzte. Die Gewalt des Aufpralls und das nachfolgende Nervenzucken knickten ihm den Rücken in einem obszönen Winkel nach vorn, und Schofield vernahm ein Übelkeit erregendes Krack!, als dem jungen Soldaten das Rückgrat brach.

In einer Nanosekunde waren Riley und Hollywood aus dem Tunneleingang. Während sie in den Tunnel hinter sich feuerten, auf einen unsichtbaren Feind, wichen sie rasch auf die nächstgelegene Sprossenleiter zurück, die zum Deck B hinabführte.

Da sie gerade erst in der Station eingetroffen waren, waren die sechs Marines, die mit Riley das verunglückte Hovercraft untersucht hatten, beim Ausbruch des Kampfs unseligerweise um den Tunnel des Haupteingangs versammelt. Was bedeutete, dass sie jetzt zwischen zwei feindlichen Einheiten gefangen waren: Eine war im Speisesaal vor ihnen und eine kam durch den Haupteingang hinter ihnen.

Schofield erkannte dies. »Book! Runter! Runter! Bring deine Leute aufs Deck B runter!«

»Bereits auf dem Weg, Scarecrow.«

Schofield und Gant befanden sich in einer noch schlimmeren Lage.

Gefangen draußen auf dem Laufsteg zwischen dem Speisesaal und dem Tunnel zum Haupteingang konnten sie nirgendwohin. Sie hatten keine Türen, hinter denen sie sich verbergen, keine Tunnel, in denen sie Deckung suchen konnten. Nur einen metallenen Laufsteg von einem Meter Breite, auf einer Seite begrenzt von einer glatten Eismauer und auf der anderen Seite von einem über zwanzig Meter tiefen Sturz.

Und das zweite französische Team konnte jetzt jede Sekunde durch den Tunnel zum Haupteingang hervorbrechen und Schofield und Gant wären die ersten, die es zu Gesicht bekäme.

Ein Eisbrocken explodierte neben Schofields Kopf und er fuhr herum. Im Speisesaal stand Petard wieder auf den Beinen. Heftig mit seinem Sturmgewehr feuernd. Schofield zielte mit seiner Desert Eagle auf den Speisesaal und feuerte rasch sechs Schüsse auf Petard ab.

Er blickte zum Haupteingang zurück.

Zehn Sekunden, im äußersten Fall.

»Scheiße«, sagte er laut, wobei er auf Gant sah, die schlaff in seinen Armen lag. »Scheiße!«

Er schaute über das Geländer des Laufstegs hinab und sah den Wassertümpel weit unten am tiefsten Punkt der Station. Es konnten nicht mehr als fünfundzwanzig oder dreißig Meter sein. Sie könnten den Sturz überleben...

Unmöglich.

Schofield sah den Laufsteg an, auf dem er stand, und dann die Eismauer hinter sich.

Schon besser.


»Scarecrow, du verschwindest da besser!« Es war Montana. Er war jetzt draußen auf dem Laufsteg, an der Südseite der Station. Von seinem Standort konnte er in den Tunnel zum Haupteingang auf der Nordseite hineinsehen. Gleich, was er dort sah, es verhieß nichts Gutes.

»Ich versuch's, ich versuch's«, erwiderte Schofield.

Schofield feuerte zwei weitere Schüsse auf Petard im Speisesaal ab, ehe er die Pistole einsteckte.

Dann griff er rasch über seine Schulter und zog seinen Maghook aus dem Holster auf seinem Rücken. Der Armalite MH-12 sah ein wenig aus wie ein altmodisches Tommy- Gewehr. Es hatte zwei Pistolengriffe: einen normalen Griff mit einem Abzug und einen nach vorn gerichteten Stützgriff unterhalb der Mündung. Im Endeffekt ist der Maghook ein Gewehr, ein kompakter, beidhändiger Werfer, der mit gewaltiger Schnelligkeit einen Greifhaken aus seiner Mündung abfeuert.

Zu Schofields Füßen begann Gant zu stöhnen.

Schofield zielte mit dem Werfer auf die Eismauer und feuerte. Ein lautes, metallisches Wumm ertönte, als der Greifhaken aus der Mündung schoss und in die Eismauer schlug. Der Haken fuhr explosionsartig durch die Mauer hindurch in den Speisesaal. Sobald er sich auf der anderen Seite befand, schnappten seine »Klauen« auf. »Scarecrow! Setz dich in

Bewegung!« Schofield wandte sich um, und da kam Gant gerade erschöpft neben ihm auf die Beine.

»Pack meine Schultern!«, sagte er zu ihr. »Wa... hm?«

»Schon gut. Halt einfach fest«, meinte Schofield, als er sich ihre Arme über die Schultern warf. Beide standen ganz nahe beieinander, Nase an Nase. Unter allen anderen Umständen hätte es wie eine intime Umarmung gewirkt, zwei Liebende, die sich küssen wollten - nicht jedoch jetzt. Gant eng bei sich haltend, fuhr Schofield herum und stützte sich mit dem Hintern auf dem Geländer ab.

Er blickte zum Tunnel des Haupteingangs zurück und sah, wie sich zwei Schatten rasch über die Eiswände des Tunnels bewegten. Aus dem Innern des Tunnels spuckte Gewehrfeuer hervor.

»Festhalten!«, sagte Schofield zu Gant.

Mit beiden Händen hielt er den Werfer hinter Gants Rücken gepackt - ihre Arme hatte er sich fest um den Hals gelegt. Und dann verschob Schofield sein Gewicht nach hinten und alle beide taumelten über das Geländer und fielen in den leeren Raum hinaus.

Schofield und Gant waren kaum über das Geländer gefallen, da prasselte auch schon ein Kugelhagel darauf ein. Eine blitzende Kaskade weißorangefarbener Funken, erzeugt beim Aufprall, explodierte über ihren Köpfen, als sie vom Laufsteg herabfielen.

Schofield und Gant stürzten.

Das Seil des Maghook spannte sich schräg über ihnen. Sie sausten an Deck B vorüber, an Riley und Hollywood, die beim unerwarteten Anblick zweier Körper, die an ihnen vorbeistürzten, herumfuhren.

Dann drückte Schofield einen schwarzen Knopf auf dem vorderen Griff des Werfers, und ein Klammermechanismus innerhalb der Mündung verbiss sich in dem abspulenden Seil.

Jäh, ruckartig, kamen Schofield und Gant gerade unterhalb von Deck B zum Stehen, und das Seil des Maghook schwang sie auf den Laufsteg zu. Rasch flogen sie über Deck C herein und fielen auf den Metallsteg hinab.

Sobald seine Füße den Steg berührt hatten, drückte Schofield zweimal den Abzug des Werfers. Sogleich reagierten die Greifhaken auf Deck A, indem sie mit einem scharfen Klick nach innen schlugen, und der Haken wurde durch das Loch zurückgesaugt, das er in die Wand des Speisesaals gebohrt hatte. Eingeholt vom Werfer fiel der Greifhaken in den Zentralschacht der Eisstation. Innerhalb weniger Sekunden war er wieder in Schofields Händen und er und Gant eilten in den nächstgelegenen Eingang.

»Granaten!«

Riley und Hollywood rannten schnurstracks aus dem Nordtunnel auf Deck B hinaus und gingen um die Ecke in Deckung.

Gleich nachdem sie verschwunden waren, erschütterte eine dröhnende Explosion den Eistunnel hinter ihnen. Hart auf den Fersen der Explosion kam die Druckwelle und dann...

Riley und Hollywood duckten sich hinter die Ecke, als ein Schwärm pfeilähnlicher Körper mit phänomenaler Geschwindigkeit an ihnen vorüber schoss und in die gegenüberliegende Wand des Tunnels schlug.

Die beiden Marines sahen einander erstaunt an.

Eine Splittergranate.

Eine Splittergranate ist im Grunde eine konventionelle Granate, die mit hunderten winziger Metallstücke gefüllt ist -winziger, scharfkantiger, abgeschrägter Metallstücke, die so geformt sind, dass man sie nur unter äußersten Schwierigkeiten aus dem menschlichen Körper herausbekommt. Wenn die Granate detoniert, schickt sie eine Welle dieser tödlichen Splitter aus, die in alle Richtungen davonschiessen.

»Ich habe es immer gesagt«, meinte Riley sarkastisch, während er den Ladestreifen herausholte und ein frisches Magazin in seine MP5 schob. »Habe es immer gesagt: Vertraue

niemals den verdammten Franzosen. Die haben was an sich. Vielleicht sind's diese kleinen Perlenaugen, die sie alle haben. Diese Arschlöcher sollten eigentlich unsere gottverdammten Verbündeten sein.«

»Verfluchte Franzosen«, stimmte Hollywood nachdenklich zu, während er mit einem Auge um die Ecke spähte.

Die Kinnlade fiel ihm herab. »Oh, Scheißdreck...«

»Was ist?« Riley fuhr gerade rechtzeitig herum und sah, wie eine zweite Granate um die Ecke plumpste und in zwei Metern Entfernung liegen blieb.

Zwei Meter. Im Freien.

Sie konnten nirgendwohin. Sie konnten einfach nirgendwohin. Konnten nicht den Korridor hinablaufen und rechtzei... Riley warf sich nach vorn. Auf die Granate zu. Mit den Füßen voran grätschte er wie ein Fußballer den eisigen Fußboden entlang. Als er in Reichweite war, trat er mächtig zu, und die Granate schlitterte den Nordtunnel zurück, zurück zum Zentralschacht.

Als Riley der Granate einen Tritt versetzte, sprang Hollywood vor, packte ihn bei den Schulterplatten und riss ihn hinter die Ecke zurück.

Die Granate detonierte.

Eine weitere ohrenbetäubende Explosion dröhnte.

Eine neue Welle aus Metallsplittern schoss aus dem Korridor an Riley und Hollywood vorbei und schlug in die Wand ihnen gegenüber ein.

Hollywood wandte sich um und sah Riley an. »Bei meinen Eiern, Mann, das ist echt 'ne verdammte Katastrophe!«

Riley war bereits auf den Beinen. »Komm schon, hier bleiben wir nicht.«

Er blickte zur anderen Seite des Nordtunnels hinüber und sah Rebound an der gegenüberliegenden Ecke auftauchen. Bei ihm waren Corporal Georgio »Legs« Lane und Sergeant Gena ›Mother‹ Newman. Sie mussten um die westliche Seite von Deck B herumgekommen sein.

»Also gut, ihr alle, hört zu!«, sagte Riley. »Soweit es mich betrifft, werden wir uns jetzt aufteilen. Wenn wir zusammen bleiben und in eine Ecke gedrängt werden, werden wir alle zu Erdbeerquark verarbeitet, verdammt noch eins. Wir müssen uns teilen. Rebound, Legs, Mother, ihr geht zurück Richtung Westen um den Außentunnel herum. Hollywood und ich gehen ostwärts. Sobald wir herausbekommen haben, wo wir sind und was wir mit unserer Position anstellen können, können wir auch herausbekommen, wie wir uns zum Teufel wieder mit den anderen vereinigen und diese Arschlöcher festnageln können. Ist das für euch alle in Ordnung?«

Es gab keine Gegenargumente. Rebound und die anderen standen rasch auf und huschten den gegenüberliegenden Eistunnel hinab.

Riley und Hollywood rannten Richtung Osten, folgten der Biegung des Außentunnels.

Beim Rennen meinte Riley: »Also gut, was ist das? Deck B, stimmt. Gut. Was ist auf Deck B?«

»Ich weiß nicht...« Hollywood unterbrach sich selbst, als sie die Biegung des Tunnels verließen und sahen, was vor ihnen lag.

Beide Männer blieben wie angenagelt stehen und spürten sogleich ihr Blut zu Eis erstarren.

Schofield feuerte mit seiner Desert Eagle in den Zentralschacht der Eisstation Wilkes hinauf. Er und Gant waren unten auf Deck C in einem Raum, der sich auf den zentralen Laufsteg öffnete. Schofield stand auf der Schwelle, die Waffe in der Hand, und blickte über den Zentralschacht zu Deck A hinauf. Neben ihm, in diesem Raum, dessen Funktion er nicht kannte, hockte Gant auf den Fersen und schüttelte sich ihre Benommenheit ab. Sie hatte ihren Helm abgenommen, und es zeigte sich jetzt kurzgeschorenes, weißblondes Haar.

Gant blickte neugierig ihren Helm an sowie den Pfeil, der darin steckte. Sie schüttelte den Kopf und setzte den Helm, mit Pfeil und allem, wieder auf. Sie legte gleichfalls ihre verspiegelte Schutzbrille wieder an, die einen großen Teil der dünnen Linie getrockneten Bluts verbarg, das ihr von der Stirn bis zum Kinn lief. Dann packte sie entschlossen ihre MP5 und trat zu Schofield.

»Wieder in Ordnung?«, fragte Schofield über die Schulter, während er mit seiner Pistole zu Deck A hinaufzielte.

»Ja. Ist mir was entgangen?«

»Hast du den Teil gesehen, als diese Bande französischer Arschlöcher, die sich für Wissenschaftler ausgegeben haben, sich entschieden haben, ihre Waffen zu ziehen und auf uns zu richten?« Schofield feuerte erneut eine Salve ab.

»Ja, den Teil habe ich mitbekommen.«

»Was ist mit dem Teil, als wir herausgefunden haben, dass unsere neuen Freunde weitere sechs Burschen in ihrem Hovercraft stecken hatten?«

»Nein, ist mir entgangen.«

»Nun, das ist soweit...«, er feuerte erneut wütend eine Salve ab, »... die ganze Geschichte.«

Gant sah Schofield an. Hinter diesen undurchsichtigen, silberfarbenen Gläsern befand sich, verdammt, ein ernsthaft verstimmtes Individuum.

Eigentlich war Schofield nicht wirklich wütend auf die französischen Soldaten per se. Sicher, zunächst war er über sich selbst wütend gewesen, weil er nicht mitbekommen hatte, dass die französischen »Wissenschaftler« in Wirklichkeit Soldaten waren. Dann jedoch waren sie als erste nach Wilkes gekommen und sie hatten zwei echte Wissenschaftler mitgebracht, ein besonders schlauer Trick, der ausgereicht hatte, Schofield und sein Team von der Fährte abzulenken.

Was ihn jedoch wirklich in Rage brachte, war, dass er in dieser Schlacht die Initiative verloren hatte.

Die Franzosen hatten Schofield und dessen Team auf dem falschen Fuß erwischt, völlig überraschend, und jetzt diktierten sie die Regeln dieses Kampfs. Das nahm ihnen Schofield wirklich übel.

Er versuchte verzweifelt, seinen Ärger zu bekämpfen. Er konnte sich nicht gestatten, wütend zu sein. Er konnte es sich nicht leisten, etwas dergleichen zu fühlen.

Stets wenn er sich dabei ertappte, dass er wütend oder durcheinander war, dachte Schofield an ein Seminar, an dem er gegen Ende 1996 in London teilgenommen und das der legendäre britische Kommandeur Brigade-General Trevor J. Barnaby geleitet hatte.

Ein bulliger Mann mit durchdringenden dunklen Augen, einem vollkommen geschorenen Schädel sowie einem einfachen schwarzen Ziegenbärtchen. Trevor Barnaby war Kopf des SAS - war es seit 1979 gewesen. Breite Kreise hielten ihn für den brillantesten militärischen Frontlinien-Taktiker der Welt. Seine strategischen Fähigkeiten in Bezug auf Durchführung von verdeckten Operationen auf fremdem Territorium waren außergewöhnlich. Wenn die beste militärische Eliteeinheit der Welt, der SAS, eine solche Operation durchführte, war sie unüberwindlich. Er war Stolz und Freude des britischen Militärestablishments und bislang hatte er noch bei keiner Mission einen Fehlschlag erlitten.

Shane Schofield 01 - Ice Station
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